Geschichten aus Tilsit (2022)

Es ist ein Sonntag, kurz nach Mitternacht. Wie immer sitzt er am Tresen und beobachtet S., die von einer Seite zur anderen huscht, hier ein Bier zapft, da einen Wein in ein Glas gießt, Karten für den nächsten Film verkauft und abkassiert.

Sie ist so klein, daß sie hinter dem Tresen kaum auszumachen ist und er ist zu schüchtern, sie nach einem Rendez-vous zu fragen. Daß er sich in sie verliebt hat, will er sich nicht eingestehen, 

abgesehen davon, ist er sich auch nicht wirklich sicher. Ja, mag schon sein, daß er ihr zugetan ist, und mehr, als er den meisten zugetan ist, aber kennt er sie gut genug, um in sie verliebt zu sein? Wahrscheinlich nicht.

So ist es wahrscheinlich auch besser, daß er sie nicht fragt, denn immerhin verstehen sie sich eigentlich ganz gut und zu fragen würde Dinge wahrscheinlich zu sehr komplizieren.

Ich meine, was hätte er schon davon, wenn er die gute Art von zwischenmenschlicher Beziehung, die sie hatten, vielleicht könnte man es auch Freundschaft nennen, darüber war er sich nicht im Klaren, aufs Spiel setzt indem er sie fragt, ob sie mit ihm ausgehen will? Ja, vielleicht gefällt er ihr auch, vielleicht würde sie ja sagen, sie würden sich nach einem  schönen Abend küssen und er würde sie nachhause bringen und dann mit einem Lächeln auf den Lippen durch die Dunkelheit zurück zu seiner Wohnung spazieren, aber was wenn es ihr unangenehm wäre, wenn er fragt und dann wäre alles zunichte. Dann wäre alles komisch zwischen ihnen und er müsste sich einen anderen Tresen suchen und ich weiß, wie schwer es ihm überhaupt erst gefallen ist diesen zu finden. Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage, daß er sie fragt, selbst wenn er eigentlich bald wegzieht und nichts mehr zu verlieren hat, es kommt nicht in Frage.

Er schüttelt den Kopf und versucht auf andere Gedanken zu kommen. Jetzt hat S. ihn dabei beobachtet und macht sich ihre Gedanken, aber er hat es nicht bemerkt. Besser so, denke ich, vielleicht hätte er da zu viel rein interpretiert, obwohl es ja nur ihr professionelles Interesse als Barkeeperin gewesen sein könnte. Er hebt seine Schultern und bewegt sie nach vorne und hinten, in der Hoffnung es würde knacksen und das Geräusch allein würde ihn schon auf andere Gedanken bringen. Das Ganze macht er einigermaßen übertrieben, damit er sich dabei zuerst über die linke und dann die rechte Schulter schauen kann, um ein bisschen zu erhaschen, wer alles so in der Bar des Lichtspielhauses [Es heißt so, daß ist keineswegs irgendetwas Prätentioses meinerseits] sitzt, ob er jemanden erkennt, was er nicht tut, ob er jemanden anderen hübschen sieht, von der er ein bisschen träumen kann, aber auch das ist nicht der Fall, also beschließt er ein bisschen zu lauschen, was die beiden Männer, die neben ihm sitzen, so von sich geben. Er kennt sie nicht zumindest nicht gut, sie sind auch Stammgäste, so wie erund er hat schon ab und an mal ein bisschen mit ihnen geredet, aber er hat ihre Namen vergessen. Der eine ist ein Asiate mit einem Schnurrbart, vielleicht ein Vietnamese oder Fidschi, das wissen weder er noch ich so ganz genau, der andere ist quasi das Gegenteil, ein halber Wikinger, mit Tätowierungen auf den Armen, die er übrigens immer offen trägt, also maximal einT-Shirt und immer diese Jeanskutte darüber, egal bei welchem Wetter, ist einfach sein Stil und das ist respektabel, auch wenn es ein bisschen peinlich aussieht, genau wie die langen Haare und der Bart, aber wie gesagt, die Entscheidung hat er mal im Leben getroffen und er steht dazu, also warum über ihn lustig machen?

Sie reden über irgendwas, was ihn nicht interessiert [Ich habe gar nicht zugehört, ich sitze eigentlich auch zu weit weg, um das gut tun zu können], also kramt er noch eine Zigarette hervor und zündet sie mit einem Streichholz an. S. fragt, ob sie auch eine haben dürfe und er will so etwas sagen wie: „Klar, für Dich habe ich doch immer eine.“, oder so, aber er zuckt mit den Schultern und hebt ihr die offene Packung vors Gesicht [Er hätte sie auf Brusthöhe gehalten, aber wenn ich schreibe, daß S. sehr klein war, dann meine ich wirklich nur so etwas zwischen 1.50 und 1.60m].

Sie zieht eine Zigarette heraus und nimmt sich ein Streichholz, muss aber dann noch was abkassieren, dann noch ein Bier ausschenken und bis sie endlich ihre Zigarette raucht, ist er schon wieder fast fertig und überlegt, ob er dann noch eine rauchen soll, damit sie gemeinsam rauchen, weil er das irgendwie romantisch findet. Also dings, nicht romantisch im Sinne von, daß er und sie  zusammengehören und Liebe undsoweiter, sondern so im Sinne von, es hat einfach so zu sein, daß man niemanden alleine rauchen lässt, weil es ja mehr so eine soziale Angelegenheit für ihn ist, das Rauchen. Oder zumindest mal war, ganz am Anfang, bevor er süchtig wurde [Und das er süchtig ist, würde er auch niemals bestreiten], jetzt raucht er ja zuhause auch alleine und eine nach der anderen. Andererseits schmeckt es ihm auch, wenn er denn mal bewusst rauchte und nicht einfach so alles an sich vorbeiziehen ließ, aber das jetzt genau zu erklären, würde wirklich zu weit führen. Belassen wir es dabei, daß er dann noch eine raucht, daß sie zusammen rauchen und sie reden nicht, sondern schauen sich nur an dabei und sie macht diese lustigen Grimassen, die sie immer macht und lächelt dabei und zeigt ihre unfassbar guten Zähne dabei. Er hoffte, daß sie früher mal eine Zahnspange gehabt hat, weil es gibt ja so Leute, die haben einfach perfekte, grade Zähne und die hasst er unfassbar, weil er sich so mit der Spange gequält hat und seine Zähne eigentlich immer noch aussehen wie ein alter Zaun auf einer Düne, wo jeder Pfosten krumm steht.

Er übertreibt damit selbstverständlich furchtbar, ich finde nicht, daß er so schlimme Zähne hat, aber jeder hat so seine Macken, was die Körperwahrnehmung angeht. S. fühlt sich bestimmt noch  viel kleiner, als sie eigentlich ist. S. hat noch eine Schwester, J., die arbeitet auch im Tilsit und das ist einigermaßen verwirrend für die meisten, weil sie nämlich Zwillinge sind und sich ziemlich ähnlich sehen und bevor er ihre Schwester wirklich mal kennengelernt hat, hat er immer Angst gehabt, daß, am Anfang als er neu im Tilsit war und noch niemanden kannte, am Tresen saß und J. angehimmelt hat, obwohl er gekommen war um S. anzuhimmeln, und vielleicht manchmal der einen oder der anderen eine Fortsetzung zu etwas erzählt hat, wo er die Vorgeschichte der jeweils anderen erzählt hat und allein der Gedanke daran war ihm schon peinlich. Zum Glück ist das aber nie passiert und als er dann beide kannte, fand er, daß sich beide gar nicht so ähnlich sahen, also schon, wie Zwillinge halt, aber er hatte sich jedes Detail von S. so eingeprägt, daß er sofort merkte, daß es bei J. fehlte. Am Telephon wäre er aber überfordert gewesen, weil ihre Stimmen 1 zu 1 gleich waren und er hätte nie gedacht, daß sich die Stimmen von Zwillingen so ähnlich sein könnten, er fand das sogar ziemlich verrückt. Froh war er auch drum, daß er nie telephonierte, also nie ranging und niemals jemanden anrief, einen Streich würden sie ihm also niemals spielen können. Alle anderen kamen offensichtlich nicht so gut mit dieser Zwillingssache klar. Einmal hatte ihn S. spontan mitgenommen zu einem Konzert [Was sein Herz hat höher schlagen lassen, daß sie ihn einfach so fragt, ob er mitkommt, als wären sie gute Freunde und nicht in so einem Kundschaftsverhältnis], da hat er feststellen müssen, daß selbst ihre Freunde wohl oft durcheinander kamen und R. hat ihm mal gesagt, er wisse oft nicht, mit welcher von beiden er grade zusammen arbeiten würde [Im Tilsit standen oft zwei hinter der Theke, falls mal viel los sein sollte, um den Ansturm gemeinsam zu meistern, oder falls halt mal wenig los war, damit einem alleine nicht so langweilig war].  Er fand aber, daß R. ohnehin ein ziemlicher Idiot war, der gar nichts kapierte. Vielleicht weil man ihm direkt ansah, daß er ein gescheiterter Philosophiestudent war, der meinte, es sei okay, im echten  Leben nur schwarze Rollkragenpullover und so eine Streberbrille dazu zu tragen und nur Stuß zu reden. Ich hab da auch so meine Erfahrungen mit R. Als ich ihm einmal erzählt habe, daß ich schreibe und  dafür sogar mal so einen unbedeutenden Nachwuchspreis bekommen habe, hat er dann so getan, als würde er sich mächtig dafür interessieren, weil er ja auch schreiben würde, aber das riecht man ja dann schon zehn Meter gegen den Wind, daß so einer nur Blödsinn aufs Papier bringt und es bestimmt bei allem nur darum geht, daß seine Exfreundin mal mit seinem Mitbewohner geschlafen hat. Seit anderthalb Jahren  redet der über nichts anderes mehr, als sei es Teil einer großen Verschwörung gegen ihn gewesen und generell das wichtigste Thema auf Mutter Erden. Wenn ich eine Frau wäre und mich ausversehen mit so einem arroganten Wichtigtuer eingelassen hätte, würde ich auch so schnell wie möglich mit dessen Mitbewohner schlafen. Das hab ich mal erzählt, und unser lieber Protagonist hat es dann S. erzählt [und J., aber nicht aus Versehen, sondern mit Absicht] als ob es seine Idee gewesen [und das verzeihe ich ihm wirklich gerne], da hat sie extrem lachen müssen und es hat ihm sehr gut getan, dieses Lachen.

Ich hab mir auch mal gedacht [aber aus Höflichkeit niemandem erzählt], es wäre wohl ganz gut gewesen, wenn R’s Vater in den Zug gewichst und ihn auf Reisen geschichkt hätte, aber das ist nicht ganz richtig, denn R. hat zumindest den P. angeschleppt auch dort zu arbeiten und der ist ein ganz famoser, lieber Kerl, den ich nicht missen möchte. Heute arbeitete P. mit S., aber mein Freund am Tresen nahm kaum Notiz von ihm. Zwar erzählte er ihm allerhand Dinge heute Abend, aber er hatte ja mal wieder nur Augen für S., auch wenn er so sehr versuchte es zu vermeiden. Das ihr das nicht auffällt, mir fällt es von der anderen Seite der Kneipe auf, vielleicht ignoriert sie es gekonnt. Wie gesagt ist sie ja ein Profi. 

Jetzt geht die Tür auf und der R. kommt rein, sieht alle drei am Tresen und erzählt nach kurzen Begrüßungsfloskeln meinem Freund, daß er da jetzt letztens eine Bekannte wieder getroffen hat, die bei einem Verlag arbeite und sie haben Nummern ausgetauscht wegen dem Roman, den er grade schreiben würde. Erzählt er so laut, daß ich es höre bis nach hinten. Wer beginnt denn so ein Gespräch? 

Am meisten war er verärgert über R., weil er damals den Job im Tilsit bekommen hat, als er sich auch beworben hat, glaube ich. Verstehe ich, er hätte das ja auch mehr verdient gehabt, aber er kann froh sein, daß R. das nicht wusste, der hätte sich bestimmt noch aufgespielt deswegen und ihm endgültig den Ruf einer miesen Kanaille eingefahren. Wenn das mit dem P. nicht gewesen wäre, er wäre schon längst völlig unten durch gewesen, da bin ich mir ganz sicher.

Schreibe einen Kommentar