Joey beantwortet keinen seiner beiden Briefe, sie bleiben tatsächlich sogar ungelesen und mit der Zeit kommt er darüber hinweg, wendet sich anderen Themen zu, dann irgendwann einer anderen Frau und lange nachdem sie ihn vergessen hat, vergisst er auch Joey.
Was bleibt sind Polaroidbilder, die sie am Strand gemacht haben, als sie schwimmen waren, das ist lange her, die er in ein Photoalbum eingeklebt hat und irgendwann in vielen Jahren wiederfindet und sich erinnert.
Marley hat seinen Brief auch nie beantwortet, auch darüber ist er irgendwann, wenn auch viel später, hinweggekommen, irgendwann wird er auch sie vergessen haben. An Marley bleibt keine Erinnerung, kein Polaroid, nur einen Stich, den er manchmal fühlt, auch dann noch, wenn er längst nicht mehr weiß, warum er ihn spürt.
An Charlie Brown hat er noch keinen Brief versandt, obwohl er schon einen geschrieben hat, aber er bezweifelt, daß er ihn jemals an sie senden wird. Sie kann nicht ignorieren, wovon sie nie erfahren wird, wenn auch faktisch das Ergebnis dasselbe ist.
Er hat viele Briefe geschrieben im Leben, weil er altmodisch ist und glaubt, nur über Briefe seine Gefühle wirklich vermitteln zu können. Manchen hatte das gefallen, manche hatten sich deshalb in ihn verliebt, anderen war es zu viel gewesen. Wer kann es ihnen verübeln, ist ein Brief nicht viel zu sehr aus der Zeit gefallen, viel zu ungewöhnlich heutzutage?
Briefe und Polaroidbilder sollten sein Leben bestimmen und das wäre in Ordnung gewesen, hätte er fünfzig Jahre zuvor gelebt, um nicht zu sagen, er wäre damals glücklicher gewesen, aber anders. Weniger wie ein Relikt, mehr ein Teil seiner Zeit, mehr Anknüpfpunkte, mehr Wertschätzung für schöne Worte.
Vielleicht sind es nicht die schönen Worte, die nicht gut ankommen, sondern einfach seine Worte. Vielleicht sind andere Worte heute schön, vielleicht sind seine Worte überhaupt nicht schön und er bildet es sich nur ein, daß er genau wüsste, was er tut. Vielleicht ist er hilflos, und das Briefe schreiben – nicht ihr Inhalt – ein Hilfeschrei.
Hilfe, wo ist mein Platz in der Welt und, habe ich überhaupt einen Platz in der Welt. Was ist das ein Platz in der Welt und gibt es überhaupt eine Welt, in der noch Platz für mich ist? Seine Gedanken kreisten unaufhörlich über diese und jene Fragen, unaufhaltbar, eine große Last.
Er konnte sich nicht vorstellen, ob Marley, Joey oder Charlie Brown sich jemals genau so fühlten, wie er, oder überhaupt ein anderer Mensch. Er hielt es nicht vollkommen für unmöglich, aber doch für unwahrscheinlich. Aber das könnte auch der Versuch gewesen sein, zumindest irgendwo sich einzigartig zu fühlen, und wenn nur im eigenen Leid.
Wenn das Leben anders verlaufen wäre, also, wenn er andere Entscheidungen getroffen hätte, wenn die Umstände anders gewesen wären, wäre er dann glücklich, oder nur anders unglücklich?
In einem anderen Leben herrscht der Kaiser von Afrika-Ungarn gerecht über seine Völker. Doch der schwarze Franz-Josef in prachtvoller Uniform schaut mit nicht zu bändigender Traurigkeit in die heran eilende Zukunft des Jahres 1914, das auch dieses Mal den Anfang vom Ende bedeutet.