Lieber Du wärst tot als ich (2023)

Verwechslung [fɛɐ̯ˈvɛkslʊŋ], f; Handlung/Vorgang, etwas für etwas anderes zu halten, als es tatsächlich ist; «Es muss sich um eine Verwechslung handeln.»
Quiproquo [kvipʁoˈkvoː], n; Verwechslung einer Person mit einer anderen; Entlehnung aus dem Lateinischen qui pro quo ‹(irgend)wer für (irgend)wen›

Mao Tse-Tung starb am 9. September 1976 in Peking im Alter von zweiundachtzig Jahren. Der 9. September war auch der Tag, an dem Josef-Walter Faber, von seinen sehr wenigen Freunden ‹Jottwe› genannt, geboren wurde, 1943 in Mähren, also quasi am anderen Ende der Welt. 

Jottwe bewohnte eine kleine, möblierte Wohnung zur Miete im Neuen Westen. Es ist nicht so, daß er sich nicht auch eine größere Wohnung hätte leisten können, Eigentum, drei oder vier Zimmer, Bibliothek, moderne Küche, zwei Kühlschränke, anstatt den zwei Zimmern, Küchenecke, Bad ohne Badewanne, aber wofür? Er war ohnehin nur zuhause, wenn er es für notwendig erachtete. 

Zwar war das tatsächlich die meiste Zeit, schließlich arbeitete er von zuhause, aber hierfür reichte der eine kleine Raum samt zweckmäßigem Schreibtisch (Zwei Arbeitsböcke und ein großes Brett), unbequemer Stuhl, weil er fand in bequemen ließe es sich nicht gut arbeiten, Laptop von Aldi, was für Text- und Mailprogramm ausreichte und für mehr nicht gebraucht wurde, in der einen Ecke ein ausreichend kleiner Fernseher – Röhre bleibt Röhre – und ein Aschenbecher (»Wer drinnen raucht, braucht ja auch keinen Balkon.«), sowie ein Bett und ein Kleiderschrank in dem anderen Zimmer.

An den Wänden waren keine Bilder, keine Poster, keine Pflanzen nirgends, nicht einmal ein Kaktus, kein Kalender, in den er hätte Termine eintragen können, nichts was davon hätte zeugen können, daß hier ein Mensch ‹lebt›. Jottwe hätte das als spartanisch bezeichnet, hätte ihn jemals jemand danach gefragt. Als Siebzehnjähriger hab ich im Wald gelebt, dachte er, buchstäblich, da hab ich sowas auch nicht gebraucht.

Der einzige Mensch, der jemals danach gefragt hätte, der einzige, mit dem Jottwe jemals eine Freundschaft gepflegt hatte und folglich der einzige, der jemals in das Innere seiner Wohnung gelassen worden wäre, ist schon lange tot. Dieses Jahr dürfte es sechsundvierzig Jahre her sein, wenn er sich richtig erinnerte. Das Erinnern fiel ihm jedes Jahr schwerer, bald würde er achtzig Jahre alt werden, zwar hatte er keine Demenz oder dergleichen, aber das Alter hinterlässt seine Spuren. Andreas wäre auch achtzig Jahre alt geworden, aber er nahm sich mit vierunddreißig Jahren das Leben, also muss sechsundvierzig Jahre stimmen, plusminus, dachte Jottwe. Er seufzte. 

«Bananenrepublik Deutschland


Täusche ich mich, wenn ich denke, dass früher alles besser war?


Früher ist nach dem Krieg. Es herrschte ein starker Glaube ans Leben. Ich war damals ein Kind. Der Wille meiner Eltern war, mich vor Armut, Unwissenheit, Krankheit zu beschützen. Ich sollte es besser haben.


Es ist nun 70 Jahre später. Ich brauche meinen Blutverdünner. Ich habe nur noch 20 Tabletten. Die Apotheken schlagen überall Alarm.


Sie haben keine Notfallmedizin für Herzinfarkte. 330 Medikamente fehlen ihnen. Für Krebskranke, Antibiotika fehlen. Für Menschen, die nicht mehr atmen können. Selbst Fieberzäpfchen für Kinder sind nicht vorrätig.


Was für ein Deutschland sind wir geworden?

Wir haben keine Medikamente mehr für unsere Kranken. Was ist übrig geblieben von früher?


Gucken wir unsere Straßen an, die kaputten Brücken. Ich habe nur noch 20 Tabletten, um mein Blut zu verdünnen.


Bin ich tot, weil Deutschland nicht mehr so ist wie früher?


Herzlichst,
Ihr Josef-Walter Faber»

Andreas wäre der Einzige, der in seine Wohnung dürfte, weil er schon damals, als sie sich eine Wohnung teilten der Einzige war, der in sein Zimmer durfte und sie würden zusammen Zigaretten rauchen und Wein trinken, wie damals in München, als sie noch so jung gewesen waren. Kennengelernt hatten sich Andreas und Jottwe vor so vielen Jahren in einem Pariser Vorort, im Orientexpresszimmer des One Two Two Two, als sie um die Gunst derselben Dame buhlten. Am Ende des Abends hatte keiner von beiden Glück gehabt, obwohl, zumindest nicht das Glück der kurzweiligen Liebe, jedoch das einer neuen, lebenslangen Freundschaft. Jottwe schwärmte seiner späteren Frau, die bis heute an seiner Seite stand – sie durfte nie in seine Wohnung, sie hatten immer getrennt gelebt und wenn sie bis heute für ihn einkaufen ging, weil er sich dafür zu schade war, stellte sie die Einkaufstüten lediglich vor der Wohnungstür ab – von diesem kecken Münchner vor und folgte ihm bald in seine Heimatstadt, wo er erstmals begann für diese Zeitung zu arbeiten. 

Er seufzte erneut. Nicht allein wegen dem Schmerz, den er beim Gedanken an Andreas in seinen Gliedern spürte, sondern auch, weil ihm das Aufstehen mit jedem Tag nicht leichter fiel als am vorangegangenen. Er begab sich schweren Schrittes in die kleine Küchenecke; Er aß selten zuhause, was hätte er denn schon eine große Küche gebraucht? Morgens aß er Eier, manchmal mit Speck, dabei Frühstücksfernsehen, danach Tageszeitung oder am Wochenende Landserhefte vom Bahnhofskiosk bis ihm eine kluge Idee oder das was er dafür hielt in den Sinn kam. Bis sechzehn Uhr konnte er zwischendurch meistens drei- bis viermal masturbieren, (»für den klaren Kopf«) anschließend schrieb er seinen Text für die Ausgabe am nächsten Morgen. 

Früher, als junger Hüpfer, war er mal Kriegsreporter gewesen, jetzt schrieb er nur noch eine Kolumne, meistens einen Brief an jemanden, der es zu mehr Ruhm gebracht hatte als er selbst, und manchmal fiel ihm dabei auf, wie unfassbar viel Geld er für die wenigen Zeilen verdiente, die er jeden Tag, außer Sonnabend, nahezu pünktlich um achtzehn Uhr mit der üblichen Abschiedsformel ablieferte. Dann verwarf er, der so genannte Gossen-Goethe, diesen Gedanken wieder, den er manchmal, in klaren Momenten kurz vor dem Einschlafen, für den einzigen sinnvollen Gedanken in seinem Leben hielt, und verschwand in die Paris Bar. 

«Liebes Jesus-Baby,


ich mag Dich, wie Du da in der Krippe liegst, das ganze Leben noch vor Dir.


Wird es für Dich Schweinefleisch in der Kita geben oder fährst Du mit dem Diesel zur Bergpredigt? Wir wissen es nicht. Das Leben ist ein Buch, das man aufschlägt, das jedoch nie geschrieben wurde.


Früher haben wir gesagt: Egal wie jung du bist, Jesus‘ Freunde waren Jünger!


Jeder lebt hinter seiner eigenen Wohnungstür. Ich denke, dass Gott sich so eine Welt vorgestellt hat. Nachher muss ich noch Kippen holen.


Ohne Fußball wären wir wie ein ausgedörrter Brunnen. In meiner Erinnerung höre ich es rascheln.


Herzlichst
Ihr Josef-Walter Faber»

Wenige Orte in Berlin stecken so voller skandalöser Geschichten und ruhmhafter Mythen wie die Paris Bar in der Kantstraße, Berlin-Charlottenburg und seit dreißig Jahren war sie das Stammlokal von Jottwe, obwohl es mittlerweile ein offizielles Rauchverbot gab, das der Wirt für Jottwe großzügig umging, nachdem der ihm gedroht hatte, er kenne ein paar Maoisten, die ihm nur allzu gerne mal auf Jottwes Befehl die Scheiben einschmeißen würden. Das war glatt gelogen, den einzigen Maoisten, den er je kannte, war Andreas und der war ja schon weißgottwielange tot gewesen an diesem Tag.

Aber Rauchverbot, das hatten erstmals die Nazis eingeführt, und Andreas hatte die Nazis und die, die er für welche hielt, gehasst und wenn Jottwe gesagt hätte, dings, lass uns da mal was machen, hätte er mitgemacht. Denn seit dreißig Jahren ging Jottwe jeden Abend in die Paris Bar, setzte sich an seinen Platz, rauchte, speiste, rauchte, soff und rauchte, und wachte am nächsten Tag in seinem Bett wieder auf, ohne jemals genau sagen zu können, wie er wieder dort gelandet war – insgeheim hoffte er, daß sein Porsche, der wieder makellos in der Tiefgarage stand, kein Beweis dafür war, daß er auch betrunken hervorragend fahren konnte – und begann den Tag von Neuem, auch mit fast achtzig Jahren. 

Und ihm gefiel sein Leben, so wie es seit diesen dreißig Jahren war und er hatte seine Arbeit, seine Freizeit, die Frau, die Tochter, die Freunde, die Urlaube, das Glück über die Jahre dieser Routine untergeordnet und selbst wenn er nicht mehr sagen konnte, ob es richtig oder falsch war, es war sein Leben. Und vor allem, weil er überhaupt noch ein Leben besaß, trotz alledem und alledem, was er erlebt hatte, gefiel es ihm umso mehr. Und das hätte Andreas verstanden, als Einziger, und er hätte nicht zugelassen, daß dieses Leben nun ein Ende hätte haben sollen, nur weil irgendsoein Nazi so ein richtiges Nazigebot durchsetzen wollte. 

Er hatte nicht einsehen wollen, plötzlich in eine andere Kneipe zu gehen, wie alle es ihm geraten hatten, seine Frau, seine Tochter, sein Chefredakteur, sein Friseur. Jottwe war rastlos gewesen, und bis er die Drohung endlich ausgesprochen hatte, war er immer angespannter geworden, rauchte noch mehr als sonst, trank noch mehr als sonst und wachte eines Morgens nicht einmal mehr im Bett, sondern auf dem Sitz seines Cabrios auf. Fast erfroren wäre er und ob er nicht schon mal jemanden totgefahren hat, aus Versehen selbstverständlich, konnte er sich ab diesem Tag nicht mehr so ganz sicher sein.

Nein, das konnte nicht sein, er mochte die Paris Bar so wie sie war und schließlich war er ein Gewohnheitstier. Seit dreißig Jahren rauchte er dieselben Gitanes, aß seit dreißig Jahren jeden Abend dasselbe, schrieb seit dreißig Jahren irgendwie immer dieselben Texte – denselben Text – und seit dreißig Jahren besoff er sich jeden Abend in der Paris Bar. Darauf wollte er nicht verzichten und deshalb diese kleine Notlüge und die sanfte Drohung.

Armer Andreas. Jottwe musste oft an ihn denken, wenn er bei Steak frites, Gitanes und Weißwein in der Paris Bar saß und das Publikum begutachtete. Die Zeiten wo Gina Lollobrigida und Yves Saint Laurent, David Bowie und, und, etc. hier tranken und speisten, sind definitiv vorbei. Die neue Generation Reicher und Schöner hatte weder Stil noch Klassenbewusstsein, vielleicht hätte Andreas heute geschafft, was er damals nicht schaffen konnte. Wenigstens sind seit dem Kriegsausbruch die unangenehmen, russischen Oligarchenfrauen und -töchter nicht mehr hier. Wobei, schön sind sie gewesen.

«Betrifft: Präsident Selenskyj


Der Mann im schwarzen Pullover. Olivgrüner Hose. Es ist der ukrainische Präsident Selenskyj. Seit Russland sein Land überfallen hat, verzichtete er auf ein weißes Hemd, Krawatte, Anzug.


Anzug und Krawatte symbolisieren unsere Wohllebigkeit. Da ist das Häuschen im Grünen. Der Urlaub auf Mallorca. Angst haben wir nur vor einem Arztbesuch oder wenn wir uns in unserem Audi in einer Kurve verschätzt haben. Der schwarze Pullover steht für eine andere Angst.


Raketen, Vergewaltigung, Verschleppungen, Erschießungen, Läuse, Ratten, Kälte, Blut, Tod. Russland hat ein Land überfallen. Es mordet und mordet. Der schwarze Pullover steht dafür, dass wir die Freiheit mit Waffen verteidigen müssen.
Wir sollten uns alle schwarze Pullover anziehen, um für unsere Freiheit zu kämpfen.


Herzlichst
Ihr Josef-Walter Faber»

Lange hatte es danach ausgesehen, als sei es Andreas gegönnt, den größeren Abdruck in der Geschichte zu hinterlassen. Dafür hatte er mit Blut bezahlt und schließlich auch mit seinem eigenen, was Jottwe damals irgendwie unfair fand, als er seinen besten Freund verlor, auch wenn er mit seinen radikalen Ideen nie so wirklich etwas anfangen konnte. Aber heute, heute kannte kaum mehr jemand seinen Namen und hätte er die Jugendlichen an der Schule gegenüber seiner Wohnung nach Andreas gefragt, sie hätten ihn nur verständnislos angestarrt. Andreas’ Leben war fast ein klassischer Epos: Ein junger Mann, der das Elend der Welt sah und sich bereit erklärte, auf die Heldenreise zu gehen, den Göttern zu trotzen und die Menschheit zu retten. Doch schon bald scheiterte er vor allem an sich selbst, sein Kampf wurde zur Odyssee mit tragischem Ende. Ihm war der Aufstieg auf den Olymp versagt geblieben.

Gossen-Goethe nennen sie ihn bei der Konkurrenz und der Stolz über diesen Spitznamen überwog nicht Jottwes Scham darüber, daß er es im Leben nie zu mehr gebracht hat. Zwar hatte er mal einen erfolgreichen Roman über einen Bankraub geschrieben, der sogar fürs Fernsehen verfilmt wurde, aber das war 1979 und niemand erinnerte sich daran, oder an die drei anderen Romane. Und das er als Ghostwriter Biographien für Musiker, Fußballer, Tennisspieler und Steuerhinterzieher geschrieben hatte, wusste auch kaum jemand. Was im Gedächtnis bleiben würde, ist nur der Ruf als Krawallmacher und Provokateur im Feuilleton. Seine eigene Tochter wagte es oft nicht ihm in die Augen zu schauen, und dem Enkelkind würde es ähnlich gehen, sobald es alt genug war, um zu verstehen, was Opa Josef für seinen Lebensunterhalt trieb. Von der Lebensführung ganz zu schweigen. 

Eines Tages würde er dem Kind vielleicht von Andreas erzählen und wie er lieber sein Leben gehabt hätte, daß das Schicksal beide vertauscht hatte, und noch viel schlimmer, der Tod die beiden verwechselte. Quiproquo. Ihm war die Welt wie aus ihren Fugen vorgekommen. Er hatte in seinem Leben viel erlebt, Flucht, Vertreibung, Krieg, Hunger, Verderben – mehr als einmal –, Angeberwessis, die mit Bierflaschen erschlagen wurden, usw., aber er hatte auch immer geglaubt, ein Nebencharakter zu sein, eine Seele im Hintergrund der Bühne, auf der ganz andere, bedeutendere Menschen, Menschen wie Alexander, Caesar, Octavian, Robespierre, Napoleon, Stalin und Andreas, die Hauptrollen spielen würden, den Verlauf der Geschichte nach vorne treiben, sozusagen. Das Andreas starb, bevor er überhaupt etwas erreicht hatte, als ein paar Tote, das kam ihm unwirklich vor, als hätte die Zeitlinie die gänzlich falsche Abzweigung genommen. Einmal hatte er Andreas im Suff gesagt: «Was auf meinem Grabstein stehen soll? Lieber Du wärst tot als ich» und er muss einen unfassbaren Fluch heraufbeschworen haben.

Andererseits war Jottwe auch ein bisschen froh. Hätte der Andreas und seine Maoisten es geschafft, hätte er bestimmt den Porsche nicht behalten dürfen, allein schon, weil Andreas viel zu gern selbst mit solchen Schlitten herumkurvte, und ob er seinen tollen Job noch hätte, ist auch fraglich. Andreas’ Genossen waren keine Fans von Jottwes Arbeitgeber gewesen, von seinem katholischen Glauben ohnehin nicht. Eigentlich bemerkenswert, dachte Jottwe, daß wir so gute Freunde waren, trennte uns doch so viel. Aber wenn Andreas noch am Leben wäre, wäre ich ja auch tot.

Ein Maoist war Jottwe selbst nie gewesen, aber ein Nazi, wie manche behaupteten? Die Nazis haben ja wie gesagt das erste Rauchverbot in diesem Land eingeführt, und Jottwe war gegen das Rauchverbot, also konnte er kein Nazi sein. Quod erat demonstrandum, oder wie der Franzose sagt CQFD.

Als Jottwe als junger Mann Sartre in Paris getroffen hatte, fühlte er sich im Zeitgeist. Das Leben von Ernst Jünger hatte ihn inspiriert, Schriftsteller zu werden und nach Frankreich zu verschwinden, wie bei Jünger hat beides nicht so wirklich geklappt. Zumindest ein stark nach Außen dringendes Dandytum hat er sich dort angewöhnt und pflegt es bis heute. Gelesen hat er alles, was ihm in die Finger kam. Die großen französischen Tages- und Wochenzeitungen vor allem, Hesse, Hemingway, aber selbstverständlich auch Philosophie, Kant, Hegel, Schopenhauer, Heidegger, hier und da auch mal ein bisschen Marx. Verstanden hatte er nichts davon und von Politik hatte er eigentlich insgesamt recht wenig Ahnung, aber begriffen hat er schnell, daß man mit linken Texten kein Geld verdient. 

«Liebe Familienpolitik,


wir alle wollen mehr Babys. Leider wurden nur 682 063 im letzten Jahr geboren. Die Geburtenrate kann die Sterberate nicht ausgleichen.


893 000 Tote. Wir haben mehr Tote als Babys. Jedes Jahr werden wir um 200 000 Menschen ärmer.


Wer ist schuld?


Schuld ist der Zeitgeist. Mütter machen Karriere, Mütter haben Hosenanzüge an (Ursula von der Leyen), Mütter geben ihre Kinder in Kitas ab, Mütter verdienen mehr als ihre Männer, Väter gehen in Teilzeit.


Was ist aus unseren Müttern geworden?
Sie sind Business-Frauen, Power-Frauen, sie trinken Smoothies, sie laufen sich im Fitnesscenter ihr Fett ab, sie sind Chefredakteurinnen, sie sitzen im Aufsichtsrat.
Sie sind wie Männer.


Sie sind keine Mütter mehr. Sie sind nicht in der Nacht dabei, wo ihr Kind Angst hat vor Donner und Blitz. Sie singen ihr Kind nicht in den Schlaf.
Politik hat keine Ahnung von Gefühlen.


Es gibt nichts Schöneres als ein Baby, das schläft, zuzudecken. Es zu küssen und Gute Nacht zu sagen.


Herzlichst,
Ihr Ihr Josef-Walter Faber»

Manchmal fragte sich Jottwe, ob er doch ein Nazi sein könnte. Oftmals unterschied sich das, was er in seinen Briefen schrieb, nur selten im Inhalt von dem, was die schreiben, die vielen als Nazis galten, nur eben noch einfacher formuliert. Er war ein professioneller Schreiber und kannte sein Publikum aus jahrelanger Erfahrung, die ihm einen gewissen Ruf, einen späten Ruhm und den Porsche Carrera eingebracht hatten. Wenn er ein Nazi war, dann sicherlich zumindest keiner aus Überzeugung, da war er sich sicher; Es geht, wie man heute so schön sagt, um Klicks und die erreicht man mit Skandal. Das war schon immer so und wer nette Dinge über Geflüchtete, Sozialdemokraten, Frauen oder tote Kinder schreibt, der verdient kein Geld. Und keiner kann Skandal so gut wie Josef-Walter Faber:

«Liebe Absturz-Opfer,


das Gepäckband in der Ankunftshalle, das Eure Koffer bringen soll, bewegt sich nicht.
Was für ein Treiben, Schubsen sonst um Rücksäcke, Samsonites. Das Gepäckband in Düsseldorf bewegt sich nicht, weil Tote keine Koffer abholen. Die Koffer und die Toten liegen verstreut in den französischen Alpen. Zwei Babys waren im Flugzeug und eine deutsche Austausch-Schülerklasse.


Was alles geschah in diesem Flugzeug – bevor es abstürzte?


Knabberten die Passagiere Nüsse, tranken sie Cola, guckten sie in die Sonne durch das Kabinenfenster? Nervten die Babys, die quengelten?


Wie war die Stimmung in dem Flugzeug, das in den Tod flog?


Ich hoffe, sie waren glücklich, bevor sie starben.


Nette Stewardessen …


Es ist so furchtbar. Ich will kein Wort mehr darüber schreiben.


Herzlichst,
Ihr Josef-Walter Faber»

Das hatte eingeschlagen wie eine Bombe, oder eben wie ein abgestürztes Flugzeug. Er kicherte beim Gedanken daran.

Vielleicht war Andreas auch einfach kein besonders guter Maoist gewesen. Dieses Ganze mit der befreiten Gesellschaft usw. passte bei Tageslicht betrachtet recht wenig zu diesem kleinen Mann mit der großen Fresse, dessen Lieblingswort «Fotze» war und dessen Lieblingssport Frauen ficken, als gehörten sie ihm, BMW und Porsche fahren, als hätten die keine Panzer und LKW für die Nazis gebaut. Auch unter seinen Genossen galt er als Sonderling und war nur der Anführer, weil er der Lauteste war und nicht der Gescheiteste.  

«Lieber Du wärst tot als ich», hatte Jottwe zu Andreas gesagt, in einer der zahllosen durchzechten Nächte, weil dieser mal wieder sauer war, daß »die Fotzen« und vor allem »die linken Fotzen« ihn nicht ranlassen. Im Prinzip war ihm Andreas immer wie ein ziemlich frustrierter Typ vorgekommen. Vielleicht hat er deshalb irgendwann so viel rumgeballert. Knarre mit Schwanz verwechselt, quasi. Vielleicht hatte er das gesagt, weil er sich als der Bessere von beiden vorgekommen ist, daran erinnert er sich nicht mehr, aber heute weiß er, daß sie beide ja eigentlich gleich miserabel gewesen sind, er selbst nur weniger frustriert.

Andererseits vielleicht gab es generell keine besonders guten Maoisten, oder Jottwes Verständnis von Maoismus war gänzlich falsch. Vielleicht wäre Andreas heute Ministerpräsident in Bayern, Winfried Kretschmann hat es in Baden-Württemberg ja auch geschafft. Vielleicht, wenn Jottwe damals gestorben wäre, würde das ganze Land nun von einem Maoisten regiert werden. Wer weiß das schon? Er stellte es sich lieber nicht vor:

«Liebe Grünen,


Ihr habt gewonnen.


Alle Papis, die mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, haben Euch gewählt. Und auch alle Muttis, die keine Gurken mit Plastikverpackung kaufen.


Ihr Grünen habt gewonnen.


Wer will nicht die Welt retten? Jeder.


Aber wie sähe unsere Welt mit den Grünen aus? Kerzen, kein elektrisches Licht, keine Autos, keine Mondfahrt, keine Herztransplantation.
Im Land der Grünen wollte ich nicht leben.


Herzlichst
Ihr Josef-Walter Faber»

«Lieber Du wärst tot als ich.» Ihm gefiel dieser Satz so gut, daß er ihn wirklich mal auf seinem Grabstein stehen haben will. Er hatte schon alle Vorkehrungen dafür getroffen. Die strotzende Männlichkeit in diesem Satz kam ihm nämlich genau so aus der Zeit gefallen vor, wie er selbst sich manchmal aus der Zeit gefallen vorkam. Dann trat er immer auf das Gaspedal seines Porsche und stellte sich vor, wie es wäre, wenn er nun einfach in den Gegenverkehr lenken würde. Eine Art Wiedergutmachung?

Bald würde Jottwe achtzig Jahre alt werden und dann hatte er vor, noch mindestens drei weitere Jahre zu leben, um wenigstens älter zu sterben als Mao Tse-Tung. Niemand will jung sterben, aber alt werden will auch keiner. Den perfekten Zeitpunkt zum Sterben, dachte er, hat er schon verpasst, also muss er sich wenigstens an so etwas klammern, um zufrieden zu sterben. Sofern so etwas überhaupt geht, mutmaßte er oft, in sich selbst hinein murmelnd und von den anderen Gästen der Paris Bar weitestgehend unbeachtet. Es war ein einsames Leben geworden, aber er hatte es sich so ausgesucht.

«Habe ich Freunde?», fragte Jottwe sich einmal in einem seiner kurzen Briefe an die Welt vor vielen Jahren. «Traurigerweise habe ich keine Freunde mehr. Ich hatte drei Freunde. Einer verunglückte, einer sprang aus dem Fenster. Einen killte der Krebs.» Manche hatten vermutet, er meine, der Staat sei der Krebs gewesen, der Andreas gekillt hat, aber das ist Unsinn. Andreas war der Verunglückte, weil ihm buchstäblich das Glück ausgegangen war in Stammheim und die Wahrheit ist, wer an Krebs gestorben ist, erinnerte er sich gar nicht mehr.Aus dem dreißigsten Stockwerk eines Apartments in New York sprang der Rottweiler einer Bekannten, der unsterblich in ihn verliebt gewesen war. Eigentlich mochte Jottwe Hunde lieber als Menschen, aber nun war zu alt sich noch einen anzuschaffen.

Wenn einer wusste, daß Andreas sich selbst umgebracht hat, dann er. Ob er sich auch umbringen sollte, wenn er endlich dreiundachtzig wird? Es würde viel Ungewissheit nehmen. Und er könnte einen letzten Brief schreiben, an sich selbst, um Verwechslungen dieses Mal ganz auszuschließen:

Zum Abschied:


Lieber Jottwe,


Was hast Du in Deinem Leben erreicht?
Kannst Du mit stolz zurückblicken und hoffen, daß der liebe Gott Dir Deine Sünden verzeiht, oder zumindest, daß Du in der Hölle Deine eigenen Texte nicht lesen musst?


Ich wünsche es Dir, denn ich wünsche es mir, daß ich meinem Schicksal gerecht geworden bin und dem von Andreas. Hach, Andreas, werden wir uns wieder sehen?


Irgendwann kommt der Tag, da sind keine Gitanes mehr zu kaufen.


Oder gibt es im Leben danach einen gut sortierten Kiosk? Ob Gott ein Raucher ist, schließlich hat er den Tabak überhaupt erst erfunden.


Alles muss ein Ende finden und auf meinem Grabstein soll dereinst stehen:
Lieber Du wärst tot als ich.


Allerherzlichst,
Dein
Josef-Walter Faber

Dann setzt er sich hinters Steuer, so wie jeden Abend, und fährt in Richtung Paris Bar in die Schwärze der Nacht davon.