Als 1918 in Petrograd der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, geriet ich, der versnobte Sohn eines zaristischen Professoren und Vorzeige-Bolshewiki in die Hände eines baskischen Rotarmisten, ein richtiger Kulakentölpel aus der Ukraine, der nichts weniger als meine nicht vorhandenen Papiere kontrollieren wollte und nicht ahnen konnte, dass ich ihn im Auftrag des NKVD bereits am nächsten Morgen nach Sibirien deportieren würde. Während wir uns auf dem Heuboden einer Scheune zu den Klängen einer Barry White Best Of-Platte aneinander gegenseitig übergriffig wurden, mehr verbal, aber der Geschlechtsverkehr war nicht minder dreckig, dachte ich daran, wie ich Dir eines Tages in der U6 begegnen würde.
Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich es genau vor mir. Irgendwo zwischen
Seestraße und Philadelphiabrücke, Du mit Deinem neuen Macker, im Vierer sitzend, ich
gerade erst eingestiegen, an der Tür stehend. Wir würden uns in die Augen schauen, doch es
wäre gar nicht unangenehm, ich würde Dich anlächeln und Dir zunicken, der Bann wäre
gebrochen und ich würde Dich nicht mehr lieben, mich nicht mehr elend fühlen, wann immer
ich an Dich denke, von Dir höre oder Dich sehe, im Internet oder sonst wo.
Doch schon damals, kurz bevor die Franquisten in Petrograd ein Massaker an uns
veranstalteten, noch bevor der Ukrainer Sibirien sehen und ich in Stalingrad von meinem
Großvater erschossen werden konnte, der Inbegriff war meinen Großvater zu erschießen,
schon damals war mir klar, dass das nie passieren würde. Ich könnte niemals vergessen, was
ich Dir vor der Trennung angetan habe und noch weniger, was Du mir danach angetan hast.
Mir war klar, dass ich Dich schon lange nicht mehr liebte, sondern eine Erinnerung an den
Menschen, der Du gewesen bist und den Menschen hasse, der Du geworden bist, obwohl ich
Dich schon so lange nicht mehr erlebt habe und gar nicht wissen konnte, wer Du mittlerweile
geworden bist. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als das Du glücklich bist, ohne mich, allein
oder mit ihm, und gleichzeitig will ich nicht mehr, als dass ich Dich auch nur eine Minute
lang leiden lassen kann, wie ich wegen Dir so viele Monate leiden musste. Die Liebe, was ist
die Liebe?
Ist der Bajonettgriff eines dummen Rotarmisten in meinem Rektum die Liebe, oder war es
Liebe, als Du mir auf Ewig die Liebe versprochen hast und welche Rolle spielt das
überhaupt? Ich dachte damals, in Yugoslawien man ahnt es bereits, ich könnte nach Dir nie
wieder jemanden lieben, und doch liebe ich jetzt die Tochter Krupps, mit der ich an Ostern
die Nacht verbracht, in der wir nichts taten, als Ernst Jünger zu zitieren und uns einen großen
Krieg zu wünschen, weil keiner mehr kommen würde und uns jede Aufregung im Leben fehlt.
Hemingway dachte er sei Teil einer Verlorenen Generation, aber er wusste, dass ihm sein
Krieg noch bevorsteht. Dandy sein, das funktioniert nicht ohne den Krieg, Jünger hat das
begriffen und er tat Abscheuliches deswegen. Vorweggenommener Folgeschaden nennt man
das. Uns steht kein Krieg mehr bevor, welchen Schaden haben wir davon weggetragen, sind
wir in der Tat verloren?
Ich liebe also die Krupp, wenn ich dann meine Augen wieder öffne, aber ich liebe auch Dich
und den Basken irgendwie ja auch, weil mir sein Opfer die Sicht wieder gab, gleichzeitig
liebe ich Nichts und Niemanden, weil ich weiß, dass es keine Liebe gibt mit euch Pazifisten,
denn mit dem Krieg habt ihr uns jede Leidenschaft weggenommen. Ich sitze in der U6 und
flüchte vor Franco wie alle anderen auch und ich sehe euch beide und ich verfluche, dass ihr
überlebt habt, als er Dich in den Arm nimmt und danach verfluche ich mich selbst, weil ich
überlebte, weil ich geboren ward, ohne je das Verlangen nach der Geburt verspürt zu haben.
Wäre doch wenigstens er nur tot und Du hilflos, Dich an ein vertrautes Gesicht schmiegend
und wir wären wieder zusammen, obwohl wir beide wissen, dass das der Hölle gleicht, aus
der wir entkommen sind.
Petrograd, Madrid, Ljubljana.
Paris, 1790 und mein Kopf ruht auf dem Schafott, im Schatten einer brennenden Kirche. Das
Volk will meinen Tod und die Tugend gibt ihnen Recht. Freiheit, Gleichheit und
Schwesterlichkeit brauchen ihre Toten wie ich die Luft zum Atmen. Vielleicht gelingt mir
noch ein letzter Zug an der Zigarette durch das Loch in meinem Hals, bevor der gerechte
Terror mich in die lange Dunkelheit entführt. Das Beil fällt und als Dandy habe ich
genüsslich Zeit noch einmal alles vor meinen Augen zu sehen.
Die Seine, die Moskwa, die
Donau.
Das Blut und die Lust.
Dich.
Mich.
Nichts.